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"das wort ist ein geschichtenbüro" erik, 4

Mosaik-Bibliothek. Tagebuchstaben

  • Autorenbild: Andrea Karimé
    Andrea Karimé
  • 11. Juli
  • 4 Min. Lesezeit

(Tägliche Notate veröffentliche ich hier ein- oder zweiwöchentlich als Blogartikel namens #tagebuchstaben. Biografisch, unsystematisch und poetisch. Vom Schreiben und Leben. Vom Arbeiten und Leben als Kinderbuchautorin (of Color) und Dichterin. Am Ende jeder Woche findest du ein Montagsgedicht.)

Unruhige Wellen.
Wellenfokus

Diese Woche gibts tagebuchstaben vom Ende eines Urlaubs, "erschossenen Sternen", mit einer magischen Bibliothek, mit einem Kinderkuss über das Meer, mit Beherztheit in unmenschlichen Zeiten, mit Endloslektüren, und einem Montagsgedicht voller Glücklichkeit.


Samstag, der 5.7.25 (Buch)

„Die Sterne stürzten auf die Straßen Berlins und zerschellten. In jener Nacht wurden so viele Sterne erschossen, dass die Straßen glitzerten.“   "Madonnas letzter Traum" von Doğan Akhanli klebt an mir. Kein Wunder, bei all der Sonnencreme und all dem Mückengift auf der Haut. Aber es klebt auch, weil es das zweite Lieblingsbuch meines Lebens ist. Das erste ist „Der Gott der kleinen Dinge“ von Arundhati Roy. Dieses nun ist das Masterpiece eines leider schon verstorbenen Dichters und Schriftstellers, der lange in Köln gelebt hat. Glücklicherweise entdeckt durch ein Theaterstück in Köln. Große Empfehlung. Die Sprache. Sätze wie „Der Himmel wirkte wie ein kleines Kind, das seine Tränen zurückhalten musste“, oder „Ich schrieb meine Geschichte neu und las zugleich meine ungeschriebene Geschichte“. Aber ich mag auch besonders, dass Dogan die deutsche Geschichte, den Holocaust, mit der Türkei verknüpft, die tragische Geschichte eines Boots mit 800 jüdischen Geflüchteten, das in Istanbul nicht anlegen durfte und dann vor Anker gesunken ist. Ich mag den Blick, mit dem Doğan Akhanlı die angebliche Vergesslichkeit der Täter erzählt: „Niemand konnte sich erinnern, dass eine Kuh eine Kuh und ein Ochse ein Ochse war. In der Nacht vom 9. auf den 10. Oktober waren weder Synagogen in Brand gesetzt worden, noch Geschäfte geplündert.“ Ich mag die phänomenalen Frauenfiguren, die Mutter etwa, die einen Wolf rettet und sich über den Dorfvorsteher empört, der die Wolfsfalle gelegt hatte. Auch die Männlichkeit des Helden erzählt Dogan untoxisch, unprätentiös und humorvoll. Das Buch ist ein Netz aus vielen Netzen. Du verfängst dich, weiß oft nicht, in welcher Geschichte in der Geschichte du dich gerade befindest. Erst als ich die Kontrolle darüber aufgab, trat etwas ein, was ich vergnügliches Verirren nenne. Doğan Baba, dein Buch

ist ein Meisterwerk.


Sonntag, der 6.6.25 (Schmetterling)

Stelle mir vor, es landeten viele gelbe Falter auf meinem schwarzen Badeanzug und ich ginge mit ihnen am Strand spazieren. Ein sonnig-vibrierender Badeanzug. So etwas schreibe ich am vorletzten Tag auf Korfu, an dem es nichts zu tun gibt, außer Wellen, Schwalben und Schmetterlingen hinterherzuschauen. Zwischendurch lese ich Bissig-Lustiges von Nora Osagiobare. „Wie alle Menschen ohne ernst zu nehmende Probleme kennt er den Unterschied nicht zwischen Freude und Erleichterung!“ Lang muss ich darüber nachdenken, bis ich verstehe. Weil ich verstehe. Wie talentiert diese junge Autorin ist.


Montag, der 7.7. (Γράμματα - Grammata)

Letzter Tag auf Korfu. Noch mal alles mitnehmen: Greek Wellen, Greek Coffee, Greek Buchstaben : Γράμματα (Grammata -  G klingt fast wie ein H). Endloslektüren.  Ich schaue einem Mädchen in meeresfarbenem Badeanzug hinterher. Sie hüpft aus dem Wasser und kurz bevor sie den Strand erreicht, dreht sie sich zum Horizont um und wirft ein Kussmündchen über die Weite. Wird das Meer geliebt? Der schöne Blick? Sagt sie: Adio?

Eine Illustration mit Meer und Schiffen, einmontiert ein Brief eines Kindes.

Mittwoch, der 10.7.25 (Mosaik)

Ankommen in Köln. Noch immer Watte im Kopf. Noch immer keine Termine. Zeit für das Bepflanzen vom Balkon. Zeit für Geschichten. Zum Beispiel die von der Mosaik-Bibliothek und der Königin von Kusch. Und einem Buch, das leere Seiten hat. „Dieses Buch braucht neue außergewöhnliche Geschichten aus der Stadt“, lese ich. Für Kinder hat Ndey Bassine Jammeh-Siegel aus Berlin die Geschichte geschrieben. Es ist aber für mich aber auch ein poetologisches Buch über das (nicht eurozentristische) Erzählen und die Bedeutung der Vielstimmigkeit und des (auch mündlich) überlieferten Wissens und das hat mich sofort für die Geschichte des Mädchens Zuri eingenommen. Zuri rettet eine außergewöhnliche Bibliothek des Wissens rettet, indem sie Geschichten von Kindern sammelt und ihre eigene erzählt. Den Begriff Mosaik-Bibliothek lese ich als wunderschönes Bild für „Vielstimmige Kinderliteratur“, also das, was die Kinderliteratur hierzulande leider nicht ist. Die Geschichte regt Kinder an, ihre eigene Bibliothek des Wissens, ein Archiv ihrer Geschichten anzulegen, und allein deshalb ist sie mir ans Herz gewachsen. Aber auch, weil so Sätze drin stehen wie: „Du hast nicht nur die Bibliothek gerettet, du hast auch die Verbindung zwischen den Geschichten und den Menschen bewahrt.“

Mit wunderschönen Illus von Diana Ejaita. Für Kinder ab 8 und für Erwachsene. (Und für meine Poetikvorlesung in Schwäbisch Gmünd, nicht nur, weil die Königin von Kusch (ehemals Region Sudan) auftaucht.)

Illustration von Diana Ejaita.

Freitag, der 11.7.25 (Außergewöhnlich)

Bereite ein Interview für unseren Verband der Erzähler*innen vor. „Die außergewöhnlichste Geschichte / das außergewöhnlichste Ereignis, von dem

Du gehört hast oder das Du selbst erlebt hast?“, ist eine von 7 Fragen die ich vorbereiten soll. 14 überraschende Fragen kommen noch dazu. Ich denke sofort, was viele außergewöhnlich/unglaublich finden, ist für mich Tages-Realität. Ich denke, klar es gab in meinem Leben Außergewöhnliches. Mit 7 die Mehrsprachigkeit in Tripoli mit Listen erforscht, mit 10 die Muttersprache Deutsch von Deutsch-Lehrer aberkannt bekommen, mit 12 in den Libanon entführt, mit 13 vom 10-Meterbrett gesprungen, mit 22 einem Schiffsunglück beigewohnt, mit 50 die Verbeamtung gekündigt usw.  (Kann man alles in meinem Buch „Wörter Wörter Himmelörter“ nachlesen.) Und deshalb werde ich davon nicht erzählen, sondern von außergewöhnlicher Beherztheit in unmenschlichsten Zeiten. Also von Janusz Korczak und Stefania Wilczyñska. Sie haben 1942 200 Kinder in das deutsche Vernichtungslager Treblinka begleitetet, obwohl sie sich selbst hätten retten können. Kurzbiographie – Korczak-Forum

 


Montagsgedicht.

Aus meinem Kindergedichtband Planetenspatzen. (Picus Verlag Wien)
Aus meinem Kindergedichtband Planetenspatzen. (Picus Verlag Wien)
Illustration von Raffaela Schöbitz @ Picus Verlag Wien
Illustration von Raffaela Schöbitz @ Picus Verlag Wien


































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