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"das wort ist ein geschichtenbüro" erik, 4

  • AutorenbildAndrea Karimé

zwischenwörter, jahresfaden. von elefantin bis hoffnung.

Aktualisiert: 4. Jan.



TAGEBUCHSTABEN 1




"I write entirely to find out what I’m thinking, what I’m looking at, what I see and what it means. (Joan Didion)"


jeden tag schreiben ist vielleicht nichts besonderes für eine kinderbuchautorin. klar. aber auch außerhalb meiner projekte schreibe ich möglichst jeden tag. morgens, gleich nach dem aufwachen, mit der hand, oder unterwegs ins kleine roadbook, um zu sammeln, und um "to find out what i am thinking" uvm. das material landet zb in montagsgedichten, artikeln oder vorträgen und ab jetzt in "tagebuchstaben". ich bin so gespannt wo mich das hinführt.


Samstag 23.12.23 (Elefantin)


Der Himmel ist in ordentliche Streifen gebürstet. Beim Aufwachen denke ich an die "weinende Elefantin". Eine Geschichte aus dem Buch von Rafik Schami "Wenn du erzählst, erblüht die Wüste", welches mich gerade durch die Nächte begleitet. Der wunderbare Roman sind "nur" Geschichten. Eine nach der anderen innerhalb einer Rahmenhandlung. Sieben Tage lang werden in Damaskus Geschichten erzählt, um der Prinzessin wieder Lebensmut zu geben. Ein Motivklassiker. In dieser Version erzählen alle mit, die möchten. Der professionelle Geschichtenerzähler erzählt zwar auch, moderiert aber hauptsächlich. Denn jede*r hat was zu erzählen. Jede*r hat was erlebt oder kennt eine Geschichte.


Ich dachte also an die traurige Elefantin und daran, dass Geschichten wirklich retten können, wie ich es schon in meinem ersten Kinderbuch "Nuri und der Geschichtenteppich" geschrieben hatte. Trösten. Wie gestern Abend, als ich eine Absage von einem Verlag kriegte. Ok, damit musst du als Kinder- und Jugendbuchautorin leben. Es gibt immer wieder für irgendetwas Absagen. Nicht alle mögen alle Ideen. Trotzdem ist jedes Mal ein Schock. Wie tröstlich war da die Geschichte von Rafik Schami. Die weinende Elefantin hat mein Herz berührt.


Sonntag, 24.12.23 (Kimya)


Kimya ist Lingala und bedeutet Frieden. Es regt mich zu einem Gedicht an. Ein Rhythmus stellt sich an, Kimya, kimya.

Im Zimmer meiner Morgenseiten entsteht ein Weihnachtsmontagsgedicht.


Auch im Kongo ist Krieg. Und an vielen anderen Orten der Welt. Bittere Gleichzeitigkeiten am Tag der Freude über Weihnachten. Die Weihnachtsgeschichte ist in meinem Kopf, die auch eine Geschichte der Flucht ist. Und darum bin ich automatisch in Israel und Palästina. Wie, so frage ich, kann man denn heute nicht daran denken? Trotzdem, ja gleichzeitig freu ich mich. Auf Besuch, auf gutes Essen und Gemeinschaft. Über das Weihnachtsoratorium. Auf die Meditation heute Abend in der Christuskirche. Auf all das freu ich mich während ich putze und koche.

Aber ich denke eben auch an die vielen Kinder, die entweder in Angst und Schrecken sind, verletzt oder schon gestorben sind. Mein schönstes Geschenk wäre ein Ende der Kriege. Die Entführten wären frei.

Jouanna Hassoun, die unermüdliche Berliner Aktivistin in Sachen Gespräch über Israeli und Palästina schreibt heute auf Instagram nur ein Wort, in drei Sprachen. Hebräisch, Arabisch und Englisch.
מספיק خلص genug
Nur das hebräische Wort kann ich nicht lesen. Aber die Schrift berührt mich. Genug!

Was für ein Privileg, heute trotzdem feiern zu dürfen. Ohne Krieg.



Montag, der 25.12.23 - Montagsgedicht (Froh)

(jeden Montag frisch )


Dienstag, 26.10.23 (Angst)


„Without any fear“, singt John Lennon in meinem Lieblingsweihnachtslied mit der Yoko-Ono-Plastikband. Ich bin eigentlich nie ohne Angst. Mal hab ich mehr Angst, mal ist sie im Hintergrund. Klar, das ist biografisch bedingt. Der Biogra-Fisch in mir zittert immer leicht. Zu viele traumatische Erlebnisse. Zum Beispiel der beginnende Bürgerkrieg im Libanon 1975, ich damals zu Besuch dort.

Das heißt aber nicht, dass ich ohne Mut bin. Als Zwölfjährige stand ich voller Angst auf dem Zehnmeterbrett des Sprungsturms im damaligen Kassler „Auebad“. Irgendwann sprang ich. Die Angst sprang mit. Meine Angst hat mich selten daran gehindert, etwas sehr Mutiges zu tun.


Trotzdem wünsche ich mir so sehr, dass auf dieser Welt kein Kind mehr

Angst haben muss!



Mittwoch, der 27.10.23 (Vogel)


Nachricht von der Neujahrspostkarte: Sie ist gedruckt und unterwegs. Ich bin voller Vorfreude. Seit Jahren gehört das Schreiben und Illustrieren eines Neujahrsgedichts zu meinen besonderen Ritualen im Jahreswechsel. Seit letztem Jahr lasse ich sie drucken – (wie Karen Köhler, die das auch mit wundervollen Weihnachtskarten macht, ich aber kenne so viele Menschen, die Weihnachten aus den unterschiedlichsten Gründen nicht feiern, und außerdem finde ich nie Zeit vor Weihnachten-) und verschicke sie an Menschen, die mir etwas bedeuten, Menschen die meine Kinderbücher unterstützen und mich zu Lesungen und Vorträgen, Podcasts oder Interviews einladen, auf Insta in besonderer Weise supporten usw. In diesem Jahr habe ich mir außerdem eine Illustration gegönnt, und zwar von Irem Kurt, der wundervollen türkischdeutschen Künstlerin. Und sie ist zauberhaft geworden.

Kein gezeichneter Vogel Kusch hatte jemals so Zugang zu meinem Herzen, wie dieser von Irem Kurt.

(Ich veröffentliche die Karte übrigens am 1.Januar als Montagsgedicht auf Insta und spätestens am 7.1. hier in meinen zweiten tagebuchstaben 2.)


Donnerstag, der 28.12.23 (Notizen)

Meine kleinen "Zwischenjahrsprojekte" (Zwischenprojekte) bringen das, was ich wollte: Poetisches Aufgescheuchtsein. Überall lauert eine Idee, eine Berührung in Schrift oder Wort.

Projekt 1: Ich tippe alle Notizen ab, sowohl Brauchbares aus den Morgenseiten als auch aus meinem Unterwegs-Notizheften. Das ist herrlich, wie waten am Strand und Edelsteine finden. Und manches hatte ich bereits ganz vergessen. Ich sortiere alles in meine Internetordner. Wortschöpfungen finden zu Versen, ganze Anfänge für meine Masterpiece und andere Kinderbücher. Fette Beute!

Projekt 2: Ich lese querbeet zu Janusz Korczak, dem jüdischen Kinderarzt, Pädagogen und Kinderbuchautor, der im Warschauer Ghetto ein Waisenhaus geleitet hat. 1942 wurden die etwa 200 Kinder ins Vernichtungslager Treblinka deportiert. Janusz Korczak hat gemeinsam mit der Lehrerin Stefania Wilczyńska die Kinder freiwillig begleitet, obwohl diese den Tod bedeutet hat. In seinen pädagogischen Ideen finde ich mich wieder. Doch dazu später.


Freitag, der 29.12.23 (Hoffnung)


"Ich lehne es ab, die Hoffnung aufzugeben!", höre ich die Aktivistin Nadine Migesel im Podcast von Shai Hoffmann sagen.

Sie ist Mitglied der Palestinians and Jews for Peace in Köln, die sich u.a. dafür einsetzt, das polarisierende Narrativ über den "Nahost-Konflikt" in Deutschland zu verändern. Was für ein Satz!


Hilde Domins berühmtes Gedicht klingt in mir an.

Nicht müde werden/ sondern dem Wunder/ leise/ wie einem Vogel/ die Hand hinhalten.

Ich lese dieses Gedicht oft mit Kindern in meiner Schreibwerkstatt, erzähle von Hilde Domin und lasse die Kinder eine Antwort schreiben. Maria, damals 8, nahm sich das Wort Vogel, übersetzte es auf Russisch und schrieb:

Птица / ein Vogel ist/ auf deiner Hand/ gelandet und er/ leuchtet wie eine Laterne

Mein deutscher Opa hatte einen Wellensittich, der am liebsten auf dem Brillenrand oder auf seinem Kopf saß. Heute hätte er Geburtstag. Wieder hinter Vogelspur durch meinen Tag.



Samstag, der 30.12.23 (Tagebuch)


„Wir müssen diese Barbarei im Herzen ablehnen. Wir dürfen diesen Hass nicht in uns kultivieren, weil es nicht helfen wird, diese Welt wieder aus dem Abgrund zu ziehen. Und sollte es nur einen einzigen anständigen Deutschen geben, so wäre dieser es wert in Schutz genommen zu werden, gegen diese ganze barbarische Horde. Und um dieses einzigen anständigen Menschen wegen, darf man seinen Hass nicht über ein ganzes Volk ausgießen.“ (Etty Hillesum, Tagebücher; 1943 in Auschwitz ermordet.)

Krass, wie hat sie diese Großherzigkeit haben können inmitten einer solchen Tragödie?


Ich möchte mich nicht/nie auf eine der bewaffneten Seiten schlagen. Hab im Herzen eine „Zweigstelle“ zum „Nahen Osten“. Syrien. Libanon. Israel. Palästina. Überall hab ich Verwandte. Überall sind meine Seiten.


Sonntag der 31.12.23 (Karton)


Das Jahr geht zu Ende. Ich schließe es ab, wie einen Karton mit Paketband, und will es in den Keller stellen. Doch es erhebt Anspruch auf Teile des nächstes Jahres. Es wispert es flüstert und brüllt. Ich lasse den Karton Karton sein und beende das Jahr deshalb mit Schreiben. Schriftfaden steuert das neue Jahr an. Ich bin so gespannt, wohin er mich führt. Im Schreiben für Kinder, in Morgenschreiben von Hand, in Unterwegssammeln im Straßenbuch. Auf jeden Fall in dieses Projekts: tagebuchstaben. Ich freu mich über alle, die mitlesen und kommentieren und fragen und so vielleicht Teil der tagebuchstaben werden.


Preview 1.1.24




Dir gefällt die Karte? Hinterlass mir ein Feedback zu den #tagebuchstaben und und du landest im Lostopf. Ich verschicke 10 Karten per Post.
Aktion bis 10.1.24





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