Meine Lese-Woche in Graubünden (tagebuchstaben)
Meine Woche in Graubünden und Aarau. Jeder Tag Geschichten. Von Lesungen und Kinderängsten, Kinderideen und diasporischem Kinderwissen. Von Kinderpoesie, Kindersprachen, Eichhörnchen, zeitverschobenem Nachtkissen, von Romanisch, der marginalisierten Schweizer Sprache und mit Montagsgedicht „schwindellicht“. Begleitet vom ungestümen Humor und glasklarem Tiefsinn in Mithus Sayals neuem Buch „Antichristie“, (und Hörbuch, umwerfend fesselnd gelesen von Melika Foroutan.) Außerdem Lena Raubaum. tagebuchstaben
Dienstag, der 28.10 24 (Krieg)
„Ihr wisst nichts über uns. Deshalb wollt ihr nicht zu viele von uns in Euren Geschichten haben. Und weil wir wiederum nicht in Euren Geschichten vorkommen, wisst ihr nichts über uns.“ (Mithu Sanyal)
„Krieg ist unnützlich“, sagt ein Kind, nachdem ich „Kalim Baba und die Wörterlampe“ gelesen habe. Und: „Ich weiß eine Antwort auf Kalim Babas Frage, wie viel Wörter es eigentlich gibt: zweimal unendlich viele,“ und: „Ihr Buch ist unlogisch.“ Ein Mädchen erschrickt freudig, als hätte sie gerade erfahren, dass sie etwas gewonnen hat, als ich sage, dass mein Name aus dem Arabischen kommt. Später kommt eine Klasse, die 23 Sprachen spricht, und ein kurdischer Junge möchte zum Thema beitragen, dass die Türkei sein Feind ist. Lehrer (glücklicherweise) und ich geben zu verstehe, wie schlimm wir das auch finden und dass wir seine Wut verstehen, was auch sonst. (Ich informiere den Jungen auch darüber, dass nicht alle türkischen Menschen für diesen Krieg sind.)
Damit wäre alles Wichtige zu den ersten drei Lesungen in Chur zwischen zeitverschobenem Nachtkissen und leerem Stundenarchipel am Nachmittag gesagt. Was mein Buch auslöst, worüber Zweitklässler sprechen: von der Magie der Wörter, von Krieg, von der Diaspora und von der Logik der Geschichten.
"Ich hoffe/ das niemand/ jemals vergisst/ dass Frieden/ ein Tunwort ist. (Lena Raubaum)
Mittwoch, der 29.10.24 (Lesig)
Ein weiterer heiterer Sonnentag begrüßt mich auf der Fahrt ins Bündener Oberland, wo ich schon gestern im Nachbarort Arno Camenischs eine „Lesig“ gehalten habe. Hier sprechen die Kids als Erstes in der Regel romanisch, sagen Beinveni, willkommen und das nicht nur zu meinen Venen oder zum Bein. 35 Kinder der Klassen 3-6 lauschten freundlich konzentriert, nachdem mir jedes einzelne die Hand gegeben hat. Zwischendrin immer wieder kleine Konzerte mit Kingonki (Kinder) Blockflöte (ich) und leisem Kichern (Kinder). Am Ende überreichten sie mir ein beschriebenes Blatt in schönster Kalligrafie mit erfundenenen Wörtern und einem Gruß. Wieder kichernd lasen sie es mir vor: Malave-Omelett, Sananas. Der Lehrer schloss mit Bildern aus der Alle-Kinder-Bibel, er habe sich so gefreut einen Vater mit Baby dort zu finden und die Lehrerin, mit Wellkamm-Wellen in Haar und Herz schenkte mir eine tourta da nusch von Duri. „Eine Nusstorte vom Opa für den Tee mit Onkel Mustafa“, lächelte die Lehrerin.
Später finde ich im Gästebuch noch ein kleines Romanisch-Deutsch Lexikon: Mutter = Muma und Kinder schreiben mir: igl ei stau mega bi ohne das Herz Emoji zu vergessen. Es war mega schön gewesen.
Donnerstag, der 30.10.24 (Blesshuhn)
Der letzte Tag in Graubünden, nachdem sich der Tag gestern mit nur einer völlig unspektakulären, störungsfrei durchgeführten Lesung mit 56 Kindern – was hier in der Schweiz schon viel ist,- wie ein Urlaubstag angefühlt hat: Mittagessen in der Sonne, Wanderung durch Wald und an Fluss und See entlang, Enten schwarze Eichhörnchen und jede Menge Blesshühnchen. Ahorn flüsterte zu mir, aber Behorn schwieg, weil Behorn kein Baum und vielleicht überhaupt nichts ist. Was auch wieder nicht geht, höchstens als Lüge. Eine Lüge im Laubschopf klänge schön, obwohl sie niemand haben will vermutlich. Den Wind aber ohne Horn und ohne irgendeine alphabetische Logik. („Deine Geschichte ist unlogisch“). Das schreibe ich, während ich auf dem Zimmer einen Sojacappucino trinke mit bestem Schaum. Im Speisesaal ist es noch zu kühl. Fenster offen, „Gardinen wehen herein, wie voluminöse Unterröcke“ (Sanyal). Bild und Anblick gefallen mir, ja, aber das reicht nicht um mich zu wärmen.
Freitag, der 1.11.24 (Teetastisch)
Unterwegs nach Aarau lasse ich noch einmal den letzten Lesetag Revue passieren. Auf dem Schulweg schien die Sonne, ging aber gleich wieder unter als ich in dem Städtchen zwischen Bergen ankomme. Ein Lehrer führt mich in die Turnhalle und sagt, er wäre der Heilpädagoge, der „Köfferli-Lehrer“. Er war so wellkamm, dass ich verschweige, dass ich Turnhallen hasse. „Sie werden sich dort wohlfühlen.“ Nach zwei wieder sehr ruhigen Lesungen stürmen am Nachmittag 60 Dritt- und Viertklässler*innen mit 18 Sprachen die Aula. Das war mit Abstand die lustigste Lesung mit Mustafa. Schon nach dem ersten Kapitel sind die Kids nicht mehr zu bremsen und quirlen mir Löcher in den Bauch. „Erzählen Sie in dem Buch über sich?“, „Wie viele Sprachen sprechen Sie?“, „War da wirklich Krieg?“ „Können Sie das Buch auch auf Romanisch schreiben?“ Ich denke an Pierre Jarawan und seine Frau im Mond und die ganze Sache, jetzt über Libanon schreiben, ja jetzt, und da ich ja nicht mit Löchern nach Hause will beantworte ich alles. Plötzlich steht eine Frau in der Tür, die aussieht wie Susan Sonntag aussah, sagt freundlich Grüetziwohl, schaut mich an, lächelt und bleibt im Türrähmen stehen. Ich lächle zurück, wir sagen nichts weiter. Schüler: „Gehört das auch zu deiner Geschichte?“ Er weiß ja gar nicht wie dankbar ich ihm bin, auch wenn ich mich in diesem Moment ausschütte vor Lachen. Im Gästebuch lese ich: „Es war TEEtastisch, engraziel!“
Samstag, der 2.11.24 (Floptropica)
„Der Wind ist ein unsichtbares Wesen, der durch das Feld rennt.“ (Mithu Sanyal)
In diesem wunderlichen Raum zwischen Reisen und Ankommen, in dem die Knochen nebelschwer und voller Zugrauschen sind, zirkulieren Bilder, Stimmen und Wörter der vergangenen Tage. „Die Geschichte geht um ein sehr kleines Zimmer im Kopf, wo aber die ganze Welt drin ist“, sagte ein Schüler im nebligen Aarau. Wo ich noch mal auf der Heimreise bei Maria und ihrer Klasse zwischengeschwebt bin, ganz im Schwung des Unterwegsseins, und endlich mal aus „Das schönste Zimmer in meinem Kopf“ vorgelesen habe. Anschließend wurde gedichtet. „Floptropica“ hieß eins, „Auf dem Dach Fußball spielen“ ein anderes und ein drittes „Konya“. Etwas zu viel Schwung vielleicht dann am Bahnsteig in der lustigen Stimmung mit Maria in den falschen Zug. Rechtzeitig ein weiteres Mal aus- und umgestiegen. Regen pickte in meinen Haaren. Jetzt, während ich bei geöffnetem Fenster auf äußeren Nebel blicke und das Windwesen reinlasse, meinen Morgenkaffee trinke, wieder mit Hafermilch, ich also dabei bin Routinen nachzugehen, fliegt eine Erinnerung nach der anderen aus diesem Zwischenraum mit Windwesen raus aufs Blatt und rüber und zu den Tauben, Krähen und Sittichen auf dem Dach, die diese vermutlich für exquisites Weltkorn halten, was sie ja sind, ja.
Montagsgedicht (schwindelicht)
bist blass
im Gesicht
mein Wicht
(schwindelicht?)
lehn dich doch
an dieses Gedicht
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