Unter Zwielichtdecken. Atemlose Woche mit Marie T Martin und Ilse Aichinger, wolkenweicher Kaffeehausschnitte und einem murrenden Fluss vor der Tür. tagebuchstaben
Dienstag, der 18.11.24 (tagebuchstaben)
Graz. Ein Palastzimmer mit Aussicht auf kraftmurrende Murr. Wolkeninseln stürmen in unglaublicher Morgenfarbe – Mischung aus Schnee Zitrone Aprikose Pink – über makellos gewischten Blauhimmel. Gibt’s des? (Ich weiß nicht, warum mir bayrisch einfällt, aber so ist das mit den Einfällen, sie fallen einfach ein.) Gestern im Kaffeehaus Ankunfts-Festessen, in kleiner typisch österreichisch-gepolsterter Fensterloge, mit anschließender wolkenweicher Kaffeehausschnitte und Melange. Jetzt schreibe ich Notat und schaue der Straßenbahn dabei zu, wie sie sich über die Murr schlängelt rein in den Glockenton von einer Kirche, deren Namen ich nicht weiß, also Metaphernüberschüsseln aus Wolkenstoff und Flussfunkeln.
Mittwoch, der 18.11.24
„Unter dem Wundfirst lauert das Verbundene“, schreibt Marie T. Martin im Gedicht genesen. Wird diese Zeit jemals genesen frage ich mich täglich, in dieser Zeit, die so traurig macht, mit all ihrem Hass, in der sich Leute mit Herz zurückziehen vom Kampf gegen Ungerechtigkeiten. Meine Zeit ist so gefüllt, dass ich nicht einmal meine Morgenseiten täglich schreiben kann. Dass ich mir der Wochentage unsicher bin. Ab Freitag habe ich frei bis Dienstag. Heute zwei Lesungen, morgen zwei Lesungen, dazwischen packen. „Warten, bis Heilung wächst, wie schönes seltenes Moos.“
Donnerstag, der 19.11.24
Unter Zwielichtdecken/ unter zuoberst verkehrten Verstecken. Unter der Zwielichtdecke aus Wort von Marie Martin, denke ich an heute Nachmittag. Ab da habe ich 4 Tage Pause. Keine Arbeit, keine Lesungen, keine Wohnung, die zu putzen wäre. Dann gären Steuer, ungeschriebene Rechnungen und vermutlich auch der Joghurt im Kühlschrank vor sich hin, weil ich in dieser Pause nicht zuhause sein werde, sondern auf dem Land mit Freund*innen. Der Kühlschrank knurrt so laut, als wolle er widersprechen. Verstehe ich ja. „Alles woran man glaubt, beginnt zu existieren“. Ilse Aichinger
Freitag, der 22.11.24 (Auszeit)
Es schneit / von weit/ in die Auszeit/ Flocken wie/ Häkelblättchen/ Spitzengeklöppel/ in schwebenden Fetzen/ hier auf dem Lande.
Samstag, der 23.11.24
Wer oder was will heute geschrieben werden? Vielleicht dass sich auf tupfen alles reimt, von bupfen bis zupfen. Jedes einzelne (unwahrscheinliche) Wort ein Glücksfall. Etwa: mupfen. So könnte ein Reisereim mit Schnupfen mupfen. Und vieles lupfige mehr.
Sonntag, der 24.11.24 (autor*innensonntag)
Postmigrantisch und poetisch. Zwei Begriffe und Arbeitsweisen, die Chantal-Fleur Sandjon und mich verbinden. Und deshalb sind wir beide in das drei Jahre andauernde Projekt "Mit Postmigrantischer Literatur zur Selbstermächtigung (PoLiS)" der Unis Schwäbisch Gmünd und Paderborn eingeladen. Die leitenden Professorin Nazli Hodaie begrüßt uns mit laudatioähnlichen würdigenden Worten.
"Wenn es darum geht, Kinder- und Jugendliteratur diverser und diversitätsgerechter zu machen, ist Chantal-Fleur Sandjon eine prominente Stimme: Sie ist afrodeutsche Autorin, Lektorin, Prozessbegleiterin, Spoken-Word-Künstlerin und – Preisträgerin des Deutschen Jugendliteraturpreises 2023 für "Die Sonne so strahlend so schwarz" ... einem der ersten Schwarzen, queeren Young Adult-Romane einer deutschsprachigen Autor*in. ... Als Autorin und Spoken-Word-Künstlerin gilt ihr Interesse besonders der „vielschichtigen Darstellung Schwarzer Lebenswelten in Deutschland, dem Einschreiben in Vergangenheit, Gegenwart und Zukünfte“... Postmigrantischer geht es kaum." (Prof. Dr. N Hodaie, PH Schwäbisch Gmünd.)
"Was Andrea Karimé betrifft, hat sie in ihrem kinderliterarischen Schaffen nach wie vor kein bisschen von ihrer erfrischend normkritischen Innovation eingebüßt, ganz im Gegenteil: In ihren zahlreichen Kinderbüchern adressiert sie häufig Migration Krieg Flucht Mehrsprachigkeit oder migrationsgesellschaftliche Diversität; sie tut dies jedoch in einer Weise die etablierte und häufig stereotype Norm - und Normalitätsvorstellungen umdreht ... dabei beleibt sie humorvoll in ihren Darstellungen und fasziniert mit mit jeder Geschichte und jedem Buch wieder von Neuem..
(Prof. Dr. N Hodaie, PH Schwäbisch Gmünd.)"
Hier gehts zu meinem Blogartikel über Chantal-Fleur Sandjon.
Montag, der 25.11.24
Ja chatchu, ja zauberschuh
Zieh dich über und im NU
Geht die Tür auf aus Achat
und ich springe im Spagat
auf ein Wolkenboot und mache
eine Spur aus Funkelsache
lache, wie ich will, ich lache
(Ja chatchu = ich will (Russisch Я хочу))
Aus meinem Gedichtband Planetenspatzen, der just in die 100 schönsten Lyrikbände für Kinder aufgenommen wurde.
Hallo Andrea! 😊
Dein Artikel über die „Zwielichtdecke“ und die Tagebuchstaben hat mich richtig bewegt. 🌙✨ Ich finde es so schön, wie du in deinen Worten die Stimmung und die Tiefe dieses besonderen Moments einfängst. Deine Beschreibung der Dunkelheit, die sich wie eine schützende Decke anfühlt, hat mich direkt an Abende erinnert, an denen ich selbst im Zwielicht gesessen habe, um meine Gedanken zu ordnen. ❤️
Besonders der Gedanke, dass das Schreiben unter dieser „Decke“ eine Art Raum für Reflexion und Kreativität schafft, hat mich sehr angesprochen. Ich führe selbst ein Tagebuch, und gerade in solchen stillen Momenten entstehen oft die ehrlichsten und wertvollsten Einträge.
Hast du vielleicht einen Tipp, wie man die Routine des Tagebuchschreibens in besonders trubeligen Zeiten…