top of page

"das wort ist ein geschichtenbüro" erik, 4

Wie viele Sprachen kannst du auswendig, Frau Karimé?

  • Autorenbild: Andrea Karimé
    Andrea Karimé
  • vor 3 Tagen
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: vor 2 Tagen

Lesungen (mit vielen Sprachen) in Deutschlands hyperdiversen Klassen

In diesem Artikel beschreibe ich eine typische Lesung mit der typischen Mehrsprachigkeit in Deutschland, wie und warum ich die Mehrsprachigkeit der Kinder in meine Lesungen einlade, und ich öffne ich meine magische Dilltasche, deren Inhalt ich seit Jahrzehnten anlege. Ich erzähle euch am Ende auch, wie ich darauf kam, und wie ich schon als Kind durch den Sprachenkoffer meines Vaters Sprachen magisch fand.


Eine typische Lesung (mit "Minu und der Geheimnismann")


Auf Einladung vom Jungen Literaturbüro Leipzig – auf Empfehlung meiner phänomenalen Kolleginnen Katharina Bendixen und Gerda Raidt – las ich in Grünau-Mitte, inmitten einer Plattenbausiedlung, an einer "Salzstraße" ohne Autos. Nachdem ich kurz von Geschichten im Kopf und vom Büchermachen erzählt habe, -"Wo ist deine Geschichte?", „Wie kriegst du das Feste drumherum?“. „Du sollst jetzt was Polnisches sagen!“, sagte ein Mädchen kurz darauf, nachdem es bemerkt hat, dass ich auf Arabisch und Türkisch und Kurdisch "Willkommen" oder "Guten Morgen" gesagt habe. "Dzien Dobre!", antworte ich also. Auf diese Weise lade ich die Kinder indirekt ein, ihre Sprachen hörbar werden zu lassen. So schlüpfen also Sprachen in die Lesung, werden also hörbar, und zwar Arabisch, Farsi, Französisch, Russisch, Polnisch, Slowakisch und Italienisch. Entweder springen sie von meiner Zunge oder von denen der Kinder.


Es entsteht ein weiterer Text, ein Lufttext vielleicht, vor allem aber ein Willkommenstext. Ein Text, der die Sprachen der Kinder mit meinen Büchern, in denen Mehrsprachigkeit oft miterzählt wird verbindet. Für die Kinder ist das das Erlebnis, Teil des Textes und einer universellen Sprache zu sein.

Meine Kollegin Anna-Maria Prassler hat mich einmal in Berlin auf einer Lesung besucht. "Es ist berührend zu sehen, was den Kindern das bedeutet!", meinte sie anschließend.


Der Vogel Kusch

Mit dem Vogel Kusch (Kusch heißt Vogel auf Türkisch, und ist der Held der Geschichte, die ich als Überleitung zu Minu aus dem Kopf erzähle) haben wir dann beinahe das Meer ausgetrunken – Aus Gründen. „Das Meer war sehr gemein!“ Dann kam Minu und zeigte uns den zauberhaften (Sprach-) Garten von Oma, den wir durch Wortschöpfungen bereichert haben. ("Wusstest du, dass aus Wörtern Blumen werden können?"). „Nudelblumen“, „Dönerblumen“, "Vogelblumen". Zwischendurch wurde geflüstert (Wiese von Minu mit Wörtern in verschiedenen Sprachen), gepfiffen, geflötet, gesungen und geschnipst.

Es sind so in der Lesung "Wort-Klang-Stücke" entstanden. Am Ende haben die Kinder wie Minu Herzenswünsche den Schirminen mitgegeben. In allen Sprachen. Nach der Lesung gabs zwei Wörter zum Buch als Geschenk: Kusch und Tschai in Stempelform. Wörter zum Mitnehmen, natürlich außerdem mein Sprachhaus mit Autogramm in Kartenform. 45 quirlige Erstklässler*innen warmherzige Lehrer*innen und Bibliothekarin und Minu und der Geheimnismann. Da nimmt noch jedes Kind ein Stück Sprach/Klang mit. 


Die Lesung aus der Sicht der Veranstalterin

Ein Instatext als Screenshot
Bericht des Jungen Literaturbüros Leipzig am 7.6.25 auf Instagram.

Was meine ich mit "die Sprachen einladen"?

Natürlich lese und erzähle ich immer auf Deutsch. Aber die Mehrsprachigkeit taucht wie gesagt auch immer als Stärke oder Potenzial in meinen Büchern auf. Mal direkt, wie in Planetenspatzen oder Antennenkind, mal indirekt wie in Minu und der Geheimnismann oder Tee mit Onkel Mustafa. Deshalb begrüße ich die Kinder in den häufigsten Einwanderungssprachen und auf Hebräisch und Romanes. Meistens wollen die Kinder dann schon nach der dritten Sprache mitreden. "Ich kann Kroatisch", sagte ein Kind etwa. Meine Antwort: "Dobardan hvala".

Drei Kinderbücher von Andrea Karimé
Die Bibliothek Grünau-Mitte hatte Bücher von mir ausgestellt.

"Wie viele Sprachen kannst du auswendig?"


In der Regel fragen die Kinder, wie viele Sprachen ich sprechen kann. "Auswendig nur Deutsch!", sage ich. Und erzähle die Geschichte meiner Dilltasche, die ich auch Sprachenherztasche nenne, weil Dil auf Türkisch Sprache und zb auf Hindi Herz heißt. In dieser Tasche habe ich Stücke von den Sprachen gesammelt. Und zwar von den häufigsten Einwanderungs-Sprachen.


Im Laufe meines Lebens habe ich tatsächlich in viele Sprachen hineingeschaut und so meine die Dill-Tasche gefüllt. In der Schule lernte ich Englisch, Französisch und Russisch; Italienisch, Arabisch und Türkisch erkundete ich auf längeren Reisen oder Stipendien mit Sprachkursen. Alle anderen Fragmente habe ich im Kontakt mit Kindern in Deutschland gelernt. Auf Lesungen und in Schreibworkshops. Und noch immer wächst die Dill-Tasche.


Diese vielsprachige, herzliche und fantastische Dilltasche ist in mein Kinderbuch „Der Wörterhimmel des Fräulein Dill“ [1] eingezogen.

Die Dilltasche, also meine Sprachenkenntnisse, ermöglicht mir nicht nur die Mehrsprachigkeit in meinen Büchern zu erzählen, sondern auch Kindern als authentisches Vorbild zu fungieren, doch dazu später. Die Dilltasche kann jede*r nachahmen.


[1] Picus Verlag Wien

Andrea Karimé erzählt eine Geschichte.
Hier eine Dill-Tasche gezeichnet von Saliha Soylu

Vom Sprachenkoffer zur Dilltasche oder Aufwachsen mit magischen Wortvögeln


Mein libanesischer Vater brachte in den 60ern einen Koffer voller Sprachen mit nach Deutschland, als er als junger Mann den Kontinent wechselte und in einem fremden Land zu studieren begann. In diesem Koffer wohnten Arabisch, Französisch Englisch und Türkisch.  Wörter aus diesen Sprachen flogen aus seinem Mund in meiner Kindheit herum wie bunte, geheimnisvolle Zaubervögel. Wortvögel. Mischmaul, Türktschekonnuschuyorum, comonsawa. Et cetera. Ich habe das meiste nicht verstanden. Unsere Familiensprache war Deutsch. Aber ich habe schon früh gemerkt, dass mein Vater verschiedene Sprachen benutzte. Eine Restaurantsprache zum Beispiel, eine Telefonsprache, eine Sprache auf der Straße. Ich fand die Tatsache, dass ein Wort in verschiedenen Sprachen ganz anders klang, aber dasselbe bedeutet magisch. Als Schulkind habe ich deshalb mit dem Sammeln angefangen um das Phänomen tiefer ergründen. Ich machte Listen, und wenn mein Vater Zeit hatte, was leider nicht oft vorkam, übersetzte er meine Lieblingswörter in 4 andere Sprachen. Daraus wurde meine "Dilltasche", eine Handtasche in der ich Wörter aus anderen Sprachen sammle, die mir Kinder schenken.


Aber ich habe nie richtig Arabisch gelernt.


Was mir die Sprachen meiner Kindheit für meine Arbeit gebracht haben

Der Sprachkoffer meines Vaters hat mich schon früh für das Phänomen der Mehrsprachigkeit sensibilisiert. Also das Interesse und den Wunsch Sprachen zu lernen. Außerdem ist von Vorteil, dass ich ein gutes Ohr dafür habe, und die Aussprache fremder Laute mir leicht fällt. So klingt es in Kinderohren immer so, als beherrschte ich eine Sprache, in der ich ein paar Worte lediglich gut aussprechen kann.

Zwei Schulklassen in einer Bibliothek
Leipzig Grünau. 45 Kinder Klasse 1. Hier notiere ich gerade eine Kinderidee zum Garten von Minus Oma für spätere Umsetzung mit Stimmen und Instrumenten.

"Sag jetzt was auf Polnisch"

Für Kinder ist es ganz ungewohnt und von großer Bedeutung, dass in einer Lesung andere Sprachen auftauchen. Vor allem, wenn es eine Sprache ist, die neben Deutsch auch noch zu ihnen gehört. Das ist in der Regel neu für sie; im Gegenteil haben sie vielleicht eher Abwertendes erlebt, oder sie sind ermahnt worden, nur Deutsch zu sprechen, obwohl Diversität in Schule und in Deutschland "einfach Tatsache ist", wie Saba-Nur Cheema in einem Podcast-Interview so schön gesagt hat. Deshalb entsteht in meinen Lesungen immer wieder eine quirlige Unruhe, Ausdruck für Freude und Überraschung darüber, dass in einem normalerweise "deutschen Space" ein so wichtiger Teil der Kinder für alle sichtbar (gewürdigt) wird.

Oft werden mir auch nach der Lesung noch Botschaften überbracht. "Meine Mama spricht Kroatisch, mein Papa Serbisch." "Dann hast du ja drei Sprachen zu Hause?" Oder: "Ich heiße Öykü." Ich: "Das klingt schön in meinem Ohr!" Kind (eindringlich):"Das heißt Geschichte!"

Im Vordergrund groß das Buch Minu und der Geheimnismann. Im Hintergrund Andrea Karimé
Lesung in Leipzig Grünau. Fotodank an Gerda Raidt.

Vorbild und Verbindung

Die Dilltasche, also meine Sprachenkenntnisse, ermöglicht mir nicht nur die Mehrsprachigkeit in meinen Büchern zu erzählen, sondern auch Kindern als authentisches Vorbild zu fungieren. Ich bin für sie eine wichtige Person, die auch noch Sprachen im Gepäck hat und zu der auch zwei Länder gehören. Umgekehrt finde ich mich auf Lesungen immer wieder in einem besonderen Kraftfeld wieder. Im letzten Jahr habe ich ca. 200 Lesungen vor meistens (mehrsprachigen) Kindern gemacht. Ich bin schätzungsweise 8000 Kindern begegnet, habe mit Ihnen diskutiert, habe ihren Gedanken gelauscht, ihre Umarmungen und Lobe eingeheimst, ihren Fantasien und Sprachen in den Lesungen Raum gegeben. In (beinahe) jeder Lesung ist das Kraftfeld der Verbundenheit entstanden. Zwischen mir, der Geschichte, die ich lese und erlebbar mache und den zuhörenden Kindern.


Mehr Info und die "echte Dilltasche"

Mehr zu meinen Lesungen beschreibe ich in meinen Artikeln Was läuft eigentlich bei Ihren Lesungen für Kinder so ab, Frau Karimé?

(Da gibts auch ein Foto von der echten Dilltasche.)und


Lesungen buchen

Hier könnt ihr mich für Lesungen, Vorträge, Fortbildungen und Schreibworkshops buchen: Andrea Karimé | Kontakt | Kinderbuchautorin und Geschichtenerzählerin aus Köln


Nichts mehr verpassen? Newsletter buchstabenrascheln abonnieren. Jedes Mal mit News, Infos aus dem großen Themenbereich „Kinder-Sprache/n-Leseförderung-Kreatives Schreiben“, einem Gedicht und einem Wortgeschenk aus anderer Sprache.

 

Comments


bottom of page