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"das wort ist ein geschichtenbüro" erik, 4

Liebe Mirjam Pressler

  • Autorenbild: Andrea Karimé
    Andrea Karimé
  • vor 7 Stunden
  • 8 Min. Lesezeit

Heute, am 18.6.25. wäre die Jugendbuchautorin Mirjam Pressler 85 Jahre alt geworden. In diesem Blogartikel schreibe ich einen Brief an sie, (mache es damit ein wenig der Herzenskollegin Simone Scharbert und ihrem Podcast "Nahaufnahme" nach) erzähle, warum ich mich mit ihr immer wieder im Zwiegespräch befinde. Was ich von ihr gelernt habe und immer noch lerne. Ich verrate, was mich zutiefst mit ihr verbindet, und welche Bücher ich besonders mag. Außerdem sage ich Danke und liebe Mirjam Pressler, Sie fehlen (mir)!


Mirjam Pressler.
Mirjam Pressler in der Ausstellung "Schreiben ist Glück". Jüdisches Museum Frankfurt, 2024


Liebe Mirjam Pressler, ich lernte Sie über Malka Mai kennen, mein absolutes Lieblingsbuch

Malka Mai ist die Geschichte eines jüdischen Mädchens, das ohne seine Mutter und Schwester in ein polnisches Ghetto deportiert wird und dort ums Überleben kämpft. Irgendwann findet die Mutter sie. Aber "Auch das Happyend kann nicht über die Grausamkeit des Erlebten hinwegtäuschen", schreibt Véronique Thiel von der FH Köln.

Buchcover des Buchs "Malka Mai" von Mirjam Pressler
Dieses Buch beruht auf einer wahren Geschichte. Die echte Malka Mai hat den Holocaust überlebt und konnte sich nach Israel retten.

Ich weiß noch genau, wie fassungslos ich über dieses Buch war. Ich versuchte zu ergründen, wie Sie so intensiv und stringent aus der Perspektive des Kindes schreiben konnten, dass ich als Leserin erst richtig verstehe, was die Grausamkeit von Ghettos und Einsamkeit in dem Kind anrichtet, als die Geschichte von ihrer Mutter, die sie nach langer Zeit wiederfindet, zu Ende erzählt wird. Ich war geschockt und gleichzeitig fasziniert von Ihrer großen Kunst, sich in ein Kind hineinzuversetzen, das sich selbst verloren geht und sich die schlimmsten Umstände normalisieren muss, um zu überleben.

So etwas hatte ich für Kinder noch nie zuvor gelesen und ich verneigte mich augenblicklich vor Ihrer Fähigkeit, diesen Stoff so spannend und berührend zu erzählen, vor der Beherztheit, ihn überhaupt für Kinder zu erzählen und ihn angemessen verstörend enden zu lassen, also Kindern den Stoff zuzumuten.

Malka Mai ist verdient zur Schullektüre geworden, vielfach ausgezeichnet und in viele Sprachen übersetzt worden.


Keine Schonung für Jugendliche

Sie wollten Jugendliche nicht schonen, haben 2018 gesagt: „Jugendliche sind Leser wie Erwachsene auch. Die Jugendlichen im Holocaust mussten das erleben. Und unsere heute haben, wenn sie das lesen, in der Regel einen vollen Bauch, ein warmes Zuhause, sie haben etwas Anständiges an und brauchen keine Lebensangst zu haben. Und deswegen können sie das durchaus lesen“. Ich stimme zu. Behütete Kinder ohne Lebensängste sollen das Buch lesen.

Leider haben aber heute selbst in Deutschland viele Kinder nicht immer einen gefüllten Bauch. Kein warmes Zuhause. Kinder die Lebensangst haben, die Abschiebungen fürchten, die von Antisemitismus und Rassismus und anderen Diskriminierungsarten stark verunsichert werden Krieg und Flucht erlebt haben und vieles mehr. Ich wünschte, liebe Mirjam Pressler, wir könnten uns heute darüber austauschen. Ich bin sicher, auch Sie hätten jetzt diese Kinder ebenso im Blick und würden für sie schreiben.


"Schreiben ist Glück" 

Das ist so schön zu hören, liebe Frau Pressler. Und deshalb sind ja glücklicherweise so viele Bücher erschienen, obschon Sie erst mit 40 Jahren angefangen haben, Jugendbücher zu schreiben. Sie gaben ihrem Verleger Gelberg in der Zeit von 1980 bis 1982 fünf Bücher ab. "Aber ich habe doch vorher 40 Jahre nicht geschrieben", sagten Sie, als Ihr Verleger fragte, warum denn so viele auf einmal. Dass Ihnen Schreiben Glück war, das betonten Sie in jedem Interview. Eine Freude. Und so hieß dann auch die Retrospektive letztes Jahr im Jüdischen Museum Frankfurt "Schreiben ist Glück". (Super, dass es diese Ausstellung gerade in Erfurt zu sehen gibt, und für alle jederzeit eine ONLINEFÜHRUNG))


Unbehütete Kindheiten

Letztes Jahr besuchte ich diese Ausstellung und noch immer hallt sie nach. „Mich interessieren ja immer die unbehüteten Kindheiten. Beschädigte Kindheiten, wie Kinder aus Scherben noch etwas machen. … wie man trotz irgendwelcher Verletzungen noch einigermaßen heil rauskommt", hörte ich Sie in einem dort gezeigten Fernsehinterview sagen. Ich wartete ab, hörte das Interview zum Mitschreiben nochmal. Und auf einmal verstand ich auch mich selbst. Es war als ob Sie über mich sprächen, über meine unbehütete Kindheit und meinen Blick auf Kindheit heut einerseits, aber auch über meine Held*innen, über Köbi, Mina, Nuri, Ruben. Wie wohltuend das war. Ich erfahre weiter, dass Sie eine "versehrte Kindheit" hatten, ihre Mutter sie ins Heim gegeben hat. Sie erst spät in der Kindheit erfahren haben, dass sie Jüdin sind.

Ich erfahre, dass sie Ihre Auseinandersetzung mit Ihren jüdischen Wurzeln 1962 nach Israel geführt hat. Und ich bin auch froh, dass Sie den wieder ansteigenden Antisemitismus weltweit nicht mehr erleben müssen.


Die Ausstellung schildert, dass und wie Sie trotz aller Verletzungen, die Sie in der Kindheit und auch später erlebt haben, Unglaubliches aus Ihrem Leben gemacht haben. Verehrte Mirjam Pressler, Sie kamen nicht, wie viele unserer Kolleg*innen aus privilegiertem Hause mit Geld und/oder selbstverständlichen Bildungszugängen. Sie waren ohne Diskriminierungserfahrungen.

Auch das verbindet mich mit Ihnen. Auch wenn ich meine Erfahrungen selbstverständlich nicht mit Ihren gleichsetzen möchte.


Weitere Lieblingsbücher

Nach Malka Mai las ich mich durch Ihr beeindruckendes Werk; ich finde alle Ihre Bücher lesenswert und bedaure, nein, es verärgert mich, dass nur wenige lieferbar sind.

Hörbuch-Cover: Mirjam Pressler. Nathan und seine Kinder.

(U.a.empfehle ich ihr Buch "Nathan und seine Kinder" von dem es eine ganz

wunderbare Hörbuchfassung gibt. "Nathan der Weise, Lessings

Plädoyer für religiöse Toleranz, ist eines der meistgespielten

deutschen Dramen. Klug, weitsichtig und brillant erzählt Mirjam

Pressler den klassischen Stoff neu - provozierend zeitgemäß,

aber nicht ohne Hoffnung für eine friedliche Koexistenz der

Religionen".(Klappentext)Hörprobe.)

Auf eins möchte ich aber noch besonders hinweisen, das ebenfalls ärgerlicherweise vergriffen ist und - UNFASSBAR!!!- bisher nicht wieder aufgelegt wurde.

Buch-Cover: Mirjam Pressler. Wenn das Glück kommt muss man ihn einen Stuhl hinstellen

Sie selbst mochten dieses Buch ganz besonders, und das versteh ich gut. Sie erzählen in "Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen" so liebevoll die tapfere Heldin Halinka, die im Heim lebt, keine Freundin hat und sich mit Weisheiten ihrer Tante Lou wie "an einem Geländer", so stehts im Klappentext, "durch seine schwierige Kindheit hangelt". Sie hat einen Geheimplatz und ein "Gedankenbuch", gerät in allerlei Tinten, gibt aber nicht auf und schreibt am Schluss: "Tante Lou, liebe Tante Lou, was braucht man Honig, wenn auch Zucker süß schmeckt?" Auch hier erzählen sie schonungslos, werfen den Blick auf eine Kindheit, die den meisten Kindern verborgen bleibt. Es ist eine marginalisierte Kindheit, die hier sichtbar wird, aber die Heldin verweigert eine mitleidige Perspektive. Sie gestaltet ihr Leben, gibt ihm einen Sinn. Trotz allem. Und genau das ist es, was mir so gut gefällt, und wovon ich lerne. Das Bittere zu erzählen, ohne die Held*innen zum bemitleidenswerten Opfer werden zu lassen. Vielleicht schimmert in diesem Buch besonders Ihre Biografie auf, Ihre eigene Kindheit. Auch das liebe Frau Pressler hab ich mir von Ihnen ins Herzzimmer genommen: Sich von der eigenen (nicht nur versehrten) Kindheit für das Schreiben für Kinder inspirieren zu lassen.


"Vertriebene Zeit ist für immer verschwunden"


Liebe Mirjam Pressler, bei Kolleg*innen haben Sie sich nicht immer beliebt gemacht. Als Sie 2010 den Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreis für ihr Gesamtwerk auf der Frankfurter Buchmesse verliehen bekamen, stand ich mit ein paar Kinderbuchautor*innen anschließend an weiß gekleideten Cocktailtischchen vor dem Saal zusammen. Ich hörte, wie einige sich über Ihre Rede geärgert hatten und Ihre Haltung "arrogant" fanden. Zum Beispiel wegen dieses Zitats:


"Verstehen Sie mich recht, ich bin nicht gegen Lesestoff, der sich zum Zeitvertreib eignet. Aber vergessen wir doch bitte nicht, dass vertriebene Zeit für immer verschwunden ist. Mit jedem trivialen Buch, das gelesen wird, wird ein literarisches nicht gelesen. Und das gilt natürlich erst recht für Jugendliche, denn der Lebensabschnitt, in dem man Jugendbücher liest, dauert nun mal nur vier, fünf Jahre. Es sind also nicht nur die bekannten „grauen Herren“, die die Menschen um ihre Zeit betrügen, sondern auch jene anderen Herren, die Heftchenromane als Literatur verkleidet herausbringen." (Mirjam Pressler, Frankfurt a.M. 2010, Rede zum Deutschen Jugendliteraturpreis für das Gesamtwerk.)

Ich bin sicher, Sie wussten das. Aber Anpassung war nicht Ihre Sache. "Ein Plädoyer für anspruchsvolle Literatur und gegen einen zunehmenden, schwer unterscheidbaren Wust von Trivialem“, so lautete der Untertitel in der Julit 4/10, in der die Rede abgedruckt ist.

Ich denke, dass viele Kolleg*innen brüskiert waren, weil sie trivial mit unterhaltend übersetzt haben.


Trivialliteratur widmet sich meist großen Themen wie Liebe, Tod, Abenteuer, Verbrechen, Familie oder Krieg, behandelt die Themen aber in einer vereinfachenden, klischeehaften und oftmals die Vorstellung einer „heilen Welt“ verklärenden Weise. Triviale Texte sind in Sprache, Verständlichkeit und Emotionalität so strukturiert, dass sie den Erwartungen einer möglichst großen Leserschaft gerecht werden (indem sie dieser eine oftmals schöne, durchweg gerechte Welt mit klaren Unterscheidungen zwischen Gut und Böse vermitteln). Wikipedia

Ich unterstelle Ihnen, dass sie Unterschiede zwischen Trivialliteratur - die ja in der Regel ein restriktives Weltbild vermittelt, eine einseitige Vorstellung von Kindheit hat und einfache Lösungen für schwierige Probleme findet, in dem sie die Welt in Gut und Böse einteilt-, und Unterhaltungsliteratur gemacht haben. Natürlich wussten Sie sehr wohl, dass auch literarische Kinderbücher unterhaltend oder spannend sein sollten, wie Ihre es doch waren, und dass es andererseits natürlich unterhaltende Kinderbücher gibt, die gut geschrieben und nicht trivial sind. Und dass es immer Zwischenbereiche gibt. Trivialliteratur im Begriffssinne aber, so pflichte ich Ihnen bei, hat im Kinderbuch nichts zu suchen.


Und ja, ich habe mich außerordentlich gefreut damals, dass eine so erfolgreiche Autorin die Stimme für das literarische Kinderbuch erhebt, das Kindern ja nicht gleichermaßen angeboten und angepriesen wird wie andere. Nicht im Schaufenster, nicht in Buch-Blogs, nicht in Verlagen, nicht in Bücherkisten. Sowieso wird das literarische Kinderbuch nicht gleichermaßen produziert und dauerhaft aufgelegt. Auch deshalb erreicht es Kinder nicht immer. Selbst wenn es unterhaltend ist.


„Anne Frank ist eigentlich ein Pubertätsbuch.

Liebe Frau Pressler, Sie haben sich intensiv mit Anne Frank beschäftigt. 1988 kam eine neue Übersetzung der Tagebücher der Anne Frank von Ihnen heraus, später editierten Sie eine Gesamtausgabe, da Anne Frank ja viel mehr geschrieben hat, als gemeinhin bekannt ist. Sie durften diese Ausgabe dicker machen und sagten: „Ich habe es bis zur letzten Seite ausgenutzt und habe Anne Frank offener und ehrlicher gemacht.“

Auch schrieben Sie eine Biografie von Anne Frank. Wie wertvoll und wichtig ich diese Arbeit finde muss ich nicht betonen.


Als Expertin verweigerten Sie die einseitige deutsche Rezeption. ich hörte Sie dazu in der Ausstellung sprechen.


„Anne Frank ist eigentlich ein Pubertätsbuch. Es zeigt die Entwicklung eines Mädchens in einer Offenheit und Ehrlichkeit, wie wir es selten haben. Einfach, weil es nicht mehr korrigiert worden ist. Und das merken die Jugendlichen.“


Als ich im Frühjahr ein Grußwort zum Konzert "Annelies" schreiben durfte, liebe Mirjam Pressler, waren Sie mir wieder einmal enge Begleitung. Ich nahm Ihren Faden auf, der sich seit der Ausstellung in meine Gedanken gestickt hatte, nämlich, dass Anne Frank in frühen Jahren bereits eine begabte Schriftstellerin war.


„Im Hinterhaus, auch im Tagebuch, passiert ja eigentlich nichts. Da sind acht Leute, die da zusammenleben und sich gegenseitig auf die Nerven gehen. Außer den Streitereien ist nicht viel los. Dass sie es geschafft hat, aus diesem Wenigen eine ganze Welt zu erschaffen, auch literarisch, und sie hat es gut geschrieben, sie hat gesprochene Sprache geschrieben, das weist sie als Literatin aus.“


Sie fehlen!

Liebe Mirjam Pressler, es gäbe noch sehr viel über Sie und ihr Werk zu sagen. Dass Sie Übersetzerin und Malerin waren, zum Beispiel. Aber vor allem, dass Sie fehlen. Ihre Kinderbücher als Erzählungen von Kindheit heute fehlen. Ihre schonungslose Kritik an der Kinderliteratur fehlt. Ihre beherzte Unbestechlichkeit fehlt. Sie fehlen! Sie fehlen mir. Ich schließe diesen Brief deshalb mit Worten von Ihnen, die ich in der Laudatio zum Sonderpreis 2010 gefunden habe, und die wie viele andere von Ihnen in einem meiner Herzimmer wohnen:

„Ich glaube sehr an die Macht positiver Vorbilder. Wenn es in meiner Kindheit diese Bücher gegeben hätte, wie ich sie später

schrieb, zum Beispiel Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen, hätte ich meine Situation damals besser

verstanden.“ Danke für alles, Ihre Andrea Karimé


Mirjam Pressler und der Sonderpreis 2010
Mirjam Pressler bei der Preisverleihung 2010. Gefunden in Julit 4/10. Bestellbar: Archiv-Recherche | AKJ

Alle Zitat stammen wenn nicht anders benannt aus dem Heft "JuLit 4/10" und aus einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Mehr zu Mirjam Pressler dort und hier: Mirjam Pressler • Biografie und Werke


Coverbild der Zeitschrift JuLit 4/10

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