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"das wort ist ein geschichtenbüro" erik, 4

Wolkenkratzerin oder Schittäppens 2 - Tagebuchstaben 64

  • Autorenbild: Andrea Karimé
    Andrea Karimé
  • 29. März
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 12. Apr.

Andrea Karimé vor einer beschrifteten Rauhfaserwand.

tagebuchstaben

(Ich schreibe nahezu täglich ein Notat und veröffentliche mehrere wöchentlich als Blogartikel namens tagebuchstaben. Biografisch, unsystematisch und verdichtet. Vom Schreiben und Leben. Vom Arbeiten als Kinderbuchautorin (of Color) und Dichterin. Am Ende jeder Woche findest du ein Montagsgedicht.)


Diese Woche schreib ich euch zwei schreib- und poesielose Wochen in einen Tag. Mit Wolkenkratzerin, in Atemnot-Trance, freiberuflich krank, auf Lesereisen, mit „wolkenweise am Himmel zerlaufenen Milchtüten“, also mit Jennifer di Negri, einigen Traumsilben und dem Montagsgedicht.

Samstag, der 29.3.25

  1. „wolkenweise am Himmel zerlaufene Milchtüten“ dichtet und schüttet Jennifer di Negri über meine Tagkuppel. Der erste Tag seit zwei Wochen, an dem ich wieder ein bisschen, also einen Hauch poetischen Aufgescheuchtseins spüre. Also Traumsilben vielleicht, die aufsteigen aus der Trance der letzten zwei Wochen, in denen ich krank war; in denen mein Vater gestorben ist. Noch stehe ich unter dem Eindruck von notwendig gewordenen schwergewichtigen Medikamente. Aber Traumsilben steigen langsam auf.


„Andrea Karimé, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber du bist voll cool!“ (Kind in Esslingen 2025)
  1. Genau vor zwei Wochen: Erkältungszeichen, einen Tag vor meiner Lesereise nach Esslingen. Kopfweh, Halsweh und leichte Temperatur. Ich packte, ruhte mich aus und hoffte, die Zeichen würden vorüberziehen wie von Himmelslungen vorwärts gejagte Wolkenlettern. Was sie nicht taten. Die Zeichen schreiben sich in meinen Körper. Sonntagmorgen: Absagen oder Fahren? Ich dachte, ja, was dachte ich eigentlich? Zahlen auf jeden Fall. Von Zahlen und vom Zahlen. Honorarverlust von 5 Lesetagen. Vielleicht zwei Tage später fahren? Alles absagen? Krank reisen, so was geht nicht gut aus, so oder so. Aber meine Gedankenvernunft zerschellte an Kopf-Watte und Koffer. Ich fuhr nach Esslingen.

"Kann man die Buchlampe geschenkt haben?" (Kind in Esslingen 2025)


  1. Für Lesung eins und zwei am Montag müh ich mich kühend aus dem Bett, werfe Antigrippe-Tabletten ein und heiße vormittags Frau Karamell, Frau Karibik und Frau Karamei. Solche Sprachspiele mit meinem Namen erlaube ich nur Kindern während Lesungen. Ich performe schwitzend und mit belegter Stimme. Dann kaufe ich ein, koche Suppe und lege mich wieder hin. Schwitze im Appartement, vom Kulturamt Esslingen angemietet. Blick auf Weinberg und eine Weide, die in einen Kanal weint.

  2. Jeden weiteren Morgen nun die Frage: Schafft meine Stimme heute 2 Lesungen? Das Team der Stadtbibliothek versorgt mich aufmerksam, Tee, Salz zum Gurgeln und Kaffee mit Hafermilch. Es ist ein Wunder: Ich lese vor, trotz kämpfendem Immunsystem, Schnupfen, Husten und Heiserkeit, wie es sich für eine preisgekrönte Lesekünstlerin gehört. Kinder fragen, ob man das Buch ausleihen oder kaufen kann.  Am Nachmittag liege ich im Bett. Zwischendurch gurgeln, um das Schelzer Tor in der Sonne spazieren, dann wieder ins Bett. Lesen geht nicht, mein Wattekörper kann nichts Sinnvolles aufnehmen, also schlechte Serie im Compi. Suppe reicht noch.


Ihre Stimmen waren sehr gut. (Kind in Esslingen 2025)
  1. Erst nach Lesung 5 und 6 am dritten Tag und nach dem dritten Suppenteller bemerke ich, dass schon lang nichts mehr geht. Bemerke ich, dass meine Lungen sich verkleben. Dass die Temperatur steigt, und jede weitere Lesung fliegt aus meiner Vorstellung hinaus zum Mars oder so. Ich beschließe nach Hause zu fahren, obwohl ich noch nicht weiß, wie ich den Koffer nach Köln und in meinen dritten Stock kriegen soll. Husten entwickelt sich weiter. Irgendwie geht alles noch immer.

Ich schenk dir ein Wort: Черепаха. Schildkröte. Tscherepacha. (Kind in Esslingen 2025)
  1. In Köln guck ich weiter Serie nonstop und gehe zum Notarzt wegen der Atemnot. Alles verschlimmert sich und nun weiß ich, was ich schon wusste, dass ich es nicht riskieren kann, krank auf Lesereisen zu fahren, „in mir brechen tunnel ein“ (Jennifer di Negri), aber die Erkenntnis kommt zu spät. Wieder Zahlen. Muss weitere Veranstaltungen absagen. Es hat sich nicht mal finanziell gelohnt, die Gesundheit aufs Spiel zu setzen.

To je basch fino bilo, auf Deutsch für Sie: das war ganz schön. (Kind in Esslingen 2025)
  1. Es ist Dienstag. Zehn Tage später atme ich noch nicht wieder frei. Die Koffer sind noch immer nicht ausgepackt.


    Dass mein ferner Vater gestorben ist, erfahre ich auf Facebook.

  2. Donnerstag: Ich nehme zusätzlich Cortison. Ich denke an die Asthmaanfälle meiner Kindheit, die entsetzliche Dunkelkaltheit, die die Atemnot heraufbeschwört in der Nacht, während meine deutsche Großmutter zu Familie Schade läuft, die Nachbarn drei Häuser weiter, die ein Auto haben. Herr Schade fährt mich zum Notarzt, Großmutter, die schon immer die Welt in Bewegung setzen konnte, dreht sich während der Fahrt immer wieder zu mir um. Ich sitze keuchend auf dem Rücksitz. Autolampensterne schwimmen auf der Straße. Ich atme sie ein, atme sowieso fast nur noch ein. Wegen der Sterne weiß ich, bald wird alles bald besser. Ich bekomme eine Spritze und Cortisontabletten. Ich schlafe bei meiner Oma. Kann noch in derselben Nacht wieder atmen. Mein Vater ist im Libanon gestorben. Niemand hat mir Bescheid gesagt. Leitung untauglich.

Kannst du mal ein Buch schreiben, über jemanden der die Welt so doll mag, dass er sie umarmen wollte? (Esslingen 2025)
  1. Mein Vater ist in Pyjama und Bademantel nachts zur nächsten Telefonzelle gelaufen, als ich den ersten Asthmaanfall meines Lebens bekam. Ich war noch ein Baby.


  1. Heute drückt irgendwer Wolkenstoffe zu arabesken Dschunken zusammen. Ein Wort mit 8 Konsonanten und einem Vokal. Das Medikament schlägt endlich an. Mit schweren Nebenwirkungsgewichten kann ich wieder etwas besser atmen.

    Heute beweine ich den Tod meines Vaters zum ersten Mal. Und ich lese die Notizen, die mir Kinder in Esslingen hinterließen.


„Tesekürede, die Lesung war so cool. Sie sind die beste Autorin. Ich hoffe Sie werden wieder gesund!“


Montagsgedicht

Die Wolkenkratzerin


Madamm Wollek

kratzt Wolken

schmatzt Flocken

und Tropfen

klopfig tammamm

Wollek Madamm



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2 commentaires


Mascha
13 avr.

Tscherepacha - altvertrautes Wort - ja, das mag ich sehr! Was wäre, wenn die Schildkröte die Nachrichten überbringt und nicht die Taube (Golubka) oder das Internet - - - -

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Andrea Karimé
Andrea Karimé
13 avr.
En réponse à

Spasiwa balschoi. Ja genau.

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