Über eine Facette des weiten Felds „Kinderliteratur“.
Selbst der Mond langweilt sich. Er liest gern Kinderbücher, aber er mag nicht mehr die hundertste Ausgabe à la Gregs Tagebuch, magische Schule und schlechte Reimen. Er hasst Belehrungen. Die riesigen Kinderbuchkommoden aber sind voll davon. Die Schubladen glitzern knallbunt. Doch das ent/täuscht. Ideen sind oft abgekupfert. Da schwimmt der Babelfisch vorbei. Jede Schuppe mindestens eine Tür. Dahinter Gesang. Eine Geschichte, eine Fantasie, eine neue Sprache. Eine Frage vielleicht. Die Langeweile des Mondes schwebt und schwindet durch die Türen der Babelfischschuppen. Heraus und in die Augen des Mondes tritt die Inspiration. Die Kommoden rufen: Hallo, für dich habe ich auch ein Fach. Aber der Babelfisch will in kein Fach passen. „Dann bist du eben nix wert!“, so der Kommodenchor.
Deutschsprachige Kinderliteratur. Zugegeben etwas zugespitzt. Zwischentöne bleiben hier unberücksichtigt. Fakt ist, dass die meisten Kinderbücher fantasielos Themen und Ideen reproduzieren, und dass sie in einer Haltung des Vermittelns und Belehrens geschrieben werden, wie etwa die 1500 Jahre alten moralischen Tier-Geschichten des Panchatantra.
Als ehemalige Grundschullehrerin weiß ich aber, dass Kinder an Lerngeschichten in der Regel nicht so viel Spaß haben. Als Kinderbuchautorin möchte ich mich beim Erzählen nicht über die Kinder stellen, eher Kindern begegnen. Aber das ist wieder ein neuer Text.[1]
(Sowieso gäbe es zu allem viel mehr zu sagen, etwa, dass Kinderbücher nach wirtschaftlichen Kriterien produziert werden und dass auch inhaltliche Entscheidungen danach getroffen werden, dass die Kinder und Eltern bestimmte Bücher in den Regalen der Geschäfte nie finden, dass eine adultistische Haltung beim Schreiben verbreitet ist, dass es der Kinderliteratur an Diversität besonders in den Erzählstimmen mangelt und und und.. Mehr dazu habe ich in den Buch „Wörter Wörter Himmelörter“ in Essays und Texten ausgeführt.)
Außerdem mag ich originelle, poetische, sprachlich interessante Texte für Kinder, die eher Fragen aufwerfen als beantworten. Und/oder. Held*innen die vielschichtig sind und Spannendes Geheimnisvolles Fantasievolles Lustiges, Abenteuerliches erleben. Sonderbare sprachverliebte Minigeschichten, Gedichte, gehören m.E. ebenfalls zum Angebot guter Kinderliteratur. Kinderliteratüren bestenfalls, die eine Tür im Kopf beim Lesen und Hören öffnen.
Ich beanspruche nicht die Deutungshoheit. Ich kann nur sagen, was mir wichtig ist, und wohin sich mein Schreiben immer wieder entwickelt. Es ist vom Babelfisch beeinflusst, der Fantasie und Poesie über alle Gerüchte der Kommoden stellt.
Die flüstern zum Beispiel: „Schreib von Einhörnern, Pferden und Fußball!“ „Schreib für Mädchen und Jungen getrennt!“ „Schreib immer lustig, leicht, einfach! Schreib keine poetischen Kinderbücher! Pass in eins unserer Schubladenelemente.“
Wenn alle Kinderbuchautor*innen auf die Kommoden hören würden, gäbe es meine und einige andere Bücher nicht. Zum Beispiel den wunderbaren kleinen Band „Mein neuer Freund der Mond“, des ägyptischen Autors Walid Taher. Ein kleiner Junge entdeckt begeistert, dass ihn der Mond überall hin verfolgt. Schließlich freundet er sich mit ihm an. Hier findet wir Poesie, eine Geschichte aber keine Hindernisse, keine knallenden Pointen. Stattdessen leiser Humor. Poesie.
Und die ist im Sinne der Kinder.
Denn Fantasie und Poesie sind zwei herausragende Kinderstärken. Fantasie leuchtet jedem ein, aber Poesie? Wer Kinder kennt, hat ihre Kraft sich auszudrücken im Ohr. Ihre Kreativität beim Spracherwerb; Wortschöpfungen und poetische Konstruktionen sind an der Tagesordnung und wir werden ständig von Sprachbildern überrascht. „Du hast so schöne Augenblicke!“, sagte meine ehemalige Schülerin einem Mitschüler. Wie ich in Lesungen lernte, mögen Kinder Sätze wie „Und das Baby lacht wie ein Bach“, den die Lektorin aus „King kommt noch“ streichen wollte.
Fantasie und Poesie sind die Schlüssel der Kinder zu Kinderliteratüren. Und Kinder sind vom Mond fasziniert. Gemeinsam lauschen sie den Sprachen des Babelfischs.
Erstveröffentlichung: Zeitschrift Mosaik - Schwerpunkt Kinderliteratur.
Erwähnt habe ich:
Andrea Karimé: King kommt noch, Peter Hammer Verlag, 2018 und „Kinderliteratüren“ in „Wörter Wörter Himmelörter Sprachen erfinden“ Konkursbuchverlag 2023
Walid Taher: Mein neuer Freund der Mond. Edition Orient Neuausgabe in Vorbereitung. September 2023
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