Tagebuchstaben 3
jeden tag schreiben = tagebuchstaben. ist vielleicht nichts besonderes für eine kinderbuchautorin. klar. aber auch außerhalb meiner projekte schreibe ich möglichst jeden tag. morgens, gleich nach dem aufwachen, mit der hand, oder unterwegs ins kleine roadbook, um zu sammeln, und um "to find out what i am thinking" uvm. das material landet zb in montagsgedichten, artikeln oder vorträgen und ab jetzt in "tagebuchstaben". ich bin so gespannt wo mich das hinführt.
Montag, der 8.1. (Papageischrei)
Yoga im Dunkeln, es wird so spät hell, und ich muss das erste Mal die Heizung anstellen. Der Winter ist also auch ins warme Köln gezogen. Das erste Mal ohne Morgenschreie der Papageien auf der Matte, auf dem Blatt. Diese Vogelruhe. Nur die Nachbarin klopft mit harten Fersen auf meinen Kopf. Rein in die Routinen. Ende der Weihnachtsferien. Nach dem zweiten Kaffee ist es halb 10 und noch immer noch nicht richtig hell.
Dienstag, der 9.1.24 (Blau)
Überraschung: Blauer Himmel im orangenen Horizontrock. Ein lachendes Hochhaus sticht in See. Der Winter im hellen Morgenhemd. Dachleuchten. Papageischreie. Der Balkonbaum gegenüber mit windschiefem Hut. Wegen Friertemperatür abgedeckt. Ich hab meine Wollpullover auf dem Balkon eingefroren. Wegen Angst wegen Motten usw
Mittwoch, der 10.1. 24 (Blockflöte)
Heute ist Tag der Blockflöte. Im Schulzimmer hab ich schon gespielt, quasi um mich zu erholen, und die Kinder mochten es. Bei Lesungen ist sie nicht mehr wegzudenken. Zusammen mit Kigonki, auf der die Kinder spielen, zaubern wir Geschichtenklänge und mehr. Die Blockflöte hab ich mit 16 gelernt, mir von meinen Schülerbafög geleistet, auch den Unterricht bei Madeleine Weber, die eine Klasse über mir war. Ich weiß noch genau, wie ich Julia, die Tochter meines Musiklehrers fragte: Kann ich jetzt noch ein Instrument lernen? In meiner Umgebung hat sich einfach niemand drum gesorgt. Julia sagte Ja. Madeleine borgte mir eine ausgediente Altblockflöte und ein halbes Jahr später konnte ich sie mir kaufen. Studiert hab ich dann auch ein Weilchen, ua bei Wolfgang Dey. Doch bei Aufführungen, Vorspielabenden usw habe ich das Lampenfieber nicht überwinden können, und also damit aufgehört und Flöte lange Jahre weggelegt. Als Lehrerin im Schuldienst 95-2007 hab sie wieder rausgeholt, es unterrichtet, den Kindern im Klassenraum zur Entspannung beider Seiten vorgespielt, und nun ist sie zuverlässige Lesungs-Begleitung.
Donnerstag, der 11.1. (Alptraumblau)
Ich bin in einem Alptraum. Er ist blau, aber eben alptraumblau. Der Stift kommt nicht voran. Vergleichbar mit Beinen, die am Boden kleben, wenn man doch eigentlich fliehen müsste. Deportationspläne werden enthüllt und schon wieder dieses gruselige Eisknirschen namens Schweigen der Nichtbetroffenen. Das geht bis in meine nächsten Freundschaften. Was hilft: Schreiben an Alle-Kinder-Bibel Nummer zwei. Tolle Geschichte heute: Das Kind, das zwei Fische bringt um 5000 Menschen zu versorgen.
Freitag der 12.1. (Magie)
"grammargirls buchstabieren macht mit wörtern machen magie"
uljana wolfs neues buch „muttertask“ ist eine fundgrube an wortmagie. weibliche, mütterliche, virtuos. sie verwandelte heute die regentropfen, die drizzeligen in perlenketten und
winzige wahrsagerkugeln. war im schreibraum. zuhause war es nicht auszuhalten. hin und zurück gelaufen, da war der kopf wieder frei, und bibelgeschichten drin.
Samstag, der 13.1.24 (tacet)
"Wer sich in Situationen der Ungerechtigkeit neutral verhält, stellt sich auf die Seite des Unterdrückers." (Desmond Tutu)
Vielleicht ergänze ich: "Wer sich Unmenschlichkeit gegenüber neutral verhält ..."
Und: Wer jetzt noch Faschos wählt, hat nichts gegen die Deportationspläne und ist demnach Nazi. Wer jetzt noch schweigt, hilft denen bei allen Unmenschlichkeiten, die sie planen, ist Mitläufer*in. Niemand kann sagen, er/sie hätte nichts gewusst. Die Zeit der Protestwählerei ist vorbei. Aber überall Demos. Viele positionieren sich. Literaturszenen im Rheinland diesmal: tacet. Nach uns kräht eben kein Kültür-Hahn.
Sonntag, der 14.1.24 (Telegramm)
Hast du eine Botschaft? Dann schick ein Telegramm. (Woody Allan)
Eine Kollegin fragt mich per Sprachnachricht, wie ich es mache, dass ich schwierige Themen im Kinderbuch platziere, es aber nicht als Thema/Botschaft intendiere, und schon gar nicht belehre. Das ist eine sehr gute Frage. Ich will keinesfalls eine Botschaft versenden. Ich glaube, dass ich die schwierigen Themen eigentlich eher als Charakter erzähle mit vielschichtigen Erfahrungen. Also: etwa hat Nuri Flucht- und Kriegserfahrung. Das ist aber nicht die Geschichte, die sie erlebt. Die Geschichte ist eine Held*innenerzählung. Nuri meistert ihr neues Leben in Deutschland, indem sie einem Kind, dass sie auf dem Schulhof angreift, eine Geschichte erzählt, die spannend, lustig und gruselig zugleich ist. Ihre vielschichtige Lebensrealität ist nie das Zentrum der Geschichte. Es ist die Figur, die Vielschichtigkeit mitbringt und ein Abenteuer, ein Geheimnis oder eine Held*innenreise erlebt.
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